„Hier Flöha, hier Flöha“ so schallte es aus den Lautsprechern des heruntergekommenen Bahnhofs, als mein Mann und ich 1984 frisch vom Studium an der Universität Rostock mit unserem kleinen Sohn hier ankamen. Ich war frisch diplomierte Sonderschullehrerin, mein Mann musste sein Schiffbaustudium zum Diplom-Ingenieur für Maschinenbau an der TU Dresden noch abschließen. Unsere erste Wohnung, noch unverheiratet, bekam ausschließlich ich zugewiesen. Zugewiesen, so nannte man das damals. Es waren verbundene Dachkammern mit einem Ofen. Im Sommer war es dort sehr heiß und im Winter froren die Betten an den Schrägen der Kammern fest.
Wir fanden es gemütlich, der Sozialismus härtet ab. Man konnte sich mit den Umständen im Sozialismus à la DDR vor allem dann arrangieren, wenn man über einen guten und offenen Freundeskreis sowie eine Familie verfügte, in der das eigentliche Leben stattfand. Man hatte die Herrschaft der allmächtigen Partei zu akzeptieren und musste auf Freiheiten verzichten: Die Freiheit zu reisen, die Freiheit laut und offen zu widersprechen, die Freiheit seine politische Meinung zu sagen oder die Freiheit, seinen Glauben in aller Offenheit und Öffentlichkeit zu praktizieren. Der Geruch von Freiheit war für uns damals gleichbedeutend mit Westpaketen, die nach Kaffee, Kosmetik oder Schokolade dufteten. Die Abschottung war umfassend, die Überwachung auch. Offene Briefe im Paket, Benachteiligungen im Bildungs- und späteren Karriereweg, weil man konfirmiert war oder sich in der Kirche engagierte, Sticheleien im Staatsbürgerkunde- oder Geschichtsunterricht, Boshaftigkeiten an den Grenzübergängen auf dem Weg in sozialistische Bruderländer - all dies gehörte zu unserer Normalität damals. Doch vor allem das kaum zu ertragene Gefühl des Eingesperrtseins und die ideologische Überfrachtung des Alltags, die sich nicht zuletzt in der permanenten Verdummung durch Staatsmedien täglich neu äußerte, waren auf Dauer für uns nur schwer zu ertragen. Ohne Zugehörigkeit zur Partei drohte uns das Ende in der persönlichen und beruflichen Entwicklung schon mit Mitte 20. Für gezielten Widerstand oder gar offenen Aufruhr fehlte uns damals noch der Mut, das Netzwerk oder die Absicherung im Westen.
Unser persönlicher Ausweg war schließlich ein Ausreiseantrag im Frühjahr 1989 mit unseren dann bereits zwei Kleinkindern. Dieser Ausreiseantrag hatte meine unmittelbare Entlassung zur Folge, mein Mann, Diplom-Ingenieur mit vertiefter IT-Ausbildung war beim Haushaltsgeräte-Kombinat-FORON im damaligen Karl-Marx-Stadt hingegen unverzichtbar. Die Staatssicherheit ließ uns von da an regelmäßig wissen, dass eine Bewilligung der Ausreise nicht infrage kommt, größere und kleinere Schikanen folgten. Dieser wachsende Druck machte uns anfänglich Angst, bestärkte uns jedoch im Vorhaben, die DDR für immer zu verlassen. Damit mir nicht völlig die Decke auf den Kopf fiel und auch um unser nicht gerade üppiges Budget zu verbessern, begann ich bei alten Menschen mit dem Fahrrad für die Volkssolidarität Essen auszufahren und die Wohnung zu reinigen. Dann kam der August 89, Urlaubszeit für die DDR-Bürger, die diese nur allzu gern in etwas freier anmutenden Gesellschaften, wie der damaligen CSSR oder Ungarn, verbrachten.
Als die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen durch das Territorium der DDR und mitten durch Dresden fuhren, begleitet von westlichen Medien, saßen wir heulend vor dem Bildschirm. Würde die DDR-Regierung und das Militär mit Unterstützung der zahlreichen sowjetischen Garnisonen nun, da viele Ausreisewillige und politisch als widerspenstig eingeschätzte Personen weg waren, mit Macht die letzten Schlupflöcher in der Mauer schließen? Die Geschehnisse in China auf dem Platz des himmlischen Friedens saßen uns in den Knochen. In jenen Tagen waren wir aufgewühlt wie nie zuvor in unserem Leben. Widerstreitende Gefühle, unbekannte Hoffnung und große Angst lagen dicht beieinander. Mit den engsten Freunden redeten wir bis spät in den Morgen, teilten unsere Emotionen, hielten uns aneinander fest und wurden aktiv.
Wir gründeten in unsere Region das „Neue Forum“.Nie werde ich unsere ersten selbstorganisierten Demonstrationen mit tausenden von Menschen vergessen, Tausende, die freiwillig mit Kerzen „Freiheit“ und „wir sind das Volk“ skandierten und ihre Rechte einforderten. Es waren ungewöhnliche Bilder. Bis dahin fanden Demonstrationen in Flöha als staatlich verordnete Jahrestreffen vor allem zum 1. Mai statt. Diese, den Bürgerinnen und Bürgern selbst noch unbekannte und auch ungeübte Macht der Straße, brachte ein scheinbar für die Ewigkeit errichtetes System, symbolisiert durch die Mauer aus Stahl und Beton, zum Wanken und in weniger als drei Monaten schließlich zum Einsturz. Selbst Rechte zu fordern, Macht auszuüben und ja auch Verantwortung zu übernehmen, das hatten wir nicht gelernt, das hatten wir auch nie für möglich gehalten. Und nun hielten wir mit zitternden Knien nicht nur ein Mikrofon für eine erste Rede auf der Demo oder in der Flöhaer Georgenkirche in der Hand, sondern auch den Riegel zum Tor in die Freiheit. Noch in unseren Wohnzimmern diskutierten wir uns die Köpfe heiß, wie wir eine friedliche Verständigung mit den bisher Mächtigen in unserem Landkreis und in unserer Stadt hinbekommen könnten. Auch in der damaligen Kreisstadt Flöha gab es runde Tische und ich saß neben dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, aus dem dann in wenigen Wochen ein Landrat wurde. Vor der Wende entlassen wegen Staatsferne, nach der Wende wiedereingestellt, zur Schuldirektorin gewählt und als Kommunalpolitikerin für das Neue Forum und später Bündnis 90/Die Grünen in den Kreistag. Jetzt galt es, Verantwortung zu übernehmen für unsere Stadt, für unser Land. Erfolge wie Fehler hatten ab da einen großen Eigenanteil. Die Umgestaltung unserer damaligen „Sonderschule A. S. Makarenko“ im Team engagierter Kolleginnen und Kollegen ohne Schulgesetz und ohne gültige Lehrpläne und Lehrbücher, war ein unglaubliches Gefühl. Neugierig erkundeten wir in NRW und Bayern, wie die Kollegen dort den Schulalltag gestalteten und stellten fest: Wir sind bestens ausgebildet und es gibt keinen Grund, sich klein zu machen! An der Seite der Stadt Flöha und des Landkreises gelang es, auch und gerade für diese oft benachteiligten Kinder mit enormen Investitionen beste Lernbedingungen zu schaffen, worauf ich bis heute stolz bin.
Politisch war es für mich eine Zeit des Gestaltens und des Lernens. Demokratie und Parlamentarismus waren noch keine sicheren Fundamente, sondern wurden in zahllosen Sitzungen geübt und ausgetestet. Doch allein die Chance, mitwirken und selbst gestalten zu können, sich aktiv übergreifend offen zu streiten und dann zu entscheiden, war jede einzelne Stunde wert. Bis heute resultiert aus dieser Zeit mein Respekt vor Politikern, die sich nach bestem Wissen und Gewissen engagieren, für diese Ideen demokratisch streiten, Mehrheiten anerkennen und wertschätzend miteinander umgehen.
Auch privat war unser Leben in jener Zeit von erheblichen Turbulenzen gekennzeichnet. Mein Mann gründete mit Freunden eine eigene IT-Firma. Nach zwölf Jahren erfolgreichen Aufbaus ging das Unternehmen mit über 70 Mitarbeitern in der Krise des IT-Sektors und auch als Folge mangelnden Eigenkapitals in die Insolvenz.
Wir haben ein Haus zu Ende gebaut, zu DDR-Zeiten ein Lebenswerk, ein Auto gekauft - einfach so. Früher meldeten, um die ca. 20 Jahre Wartezeit für ein Auto zu überstehen, spätestens wenn man zehn Jahre alt war, die Großeltern eine Autobestellung an. Bei mir war dies meine Oma Erna, die hatte gar keine Fahrerlaubnis, aber das störte niemanden. Mit den Kindern fuhren wir in den Urlaub nach Italien - ohne lange und unsichere Beantragung eines Visa - von der Haustür über Hof, München, Innsbruck, den Brennerpass und morgens früh um vier den ersten Espresso direkt an der Raststelle in Bozen. Nie, wirklich nie hätten wir uns träumen lassen, den Spuren eines Michelangelos in Florenz folgen zu können oder in Rom die Herzkammer des römischen Reiches selbst zu spüren. In unserer Wahrnehmung vor der Wende war der Westzipfel Sibiriens, das Kaspische Meer, mehrere 1000 km entfernt, gefühlt näher als der Bodensee. Diese Fülle des Lebens mit immer neuen Eindrücken, den Chancen demokratisch mitzugestalten und der Freiheit, sich entscheiden zu können, hat uns tief geprägt. Freiheit im Denken wie im Handeln und als Staatsform eine Demokratie stehen deshalb auf unserer Werteskala ganz oben!
Und wie ging es mit mir weiter? Nach diesen ersten Nachwendejahren wechselte ich 1996 hauptberuflich als Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen in die Politik. An der Seite von Joschka Fischer und Jürgen Trittin und mit den damaligen SPD-Spitzen Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine hatte ich die Chance, am ersten rot-grünen Koalitionsvertrag für unser Land 1998 mitzuschreiben. Zahlreiche Besuche und Auftritte, in Kneipen, Hörsälen oder Stadthallen brachten mir die Vielfalt unseres Landes, seiner Menschen von den Essensgewohnheiten bis zu den Dialekten nahe. Wir haben das Glück, in einem der liebenswertesten und auch reichsten Länder dieser Welt zu leben und ich kenne einige. 2000 wechselte ich in die Energie- und Wasserwirtschaft, wo ich in unterschiedlichen Führungsrollen bis heute tätig bin. Ganz gleich, ob ich von unserem Berufsbildungsprojekt aus Vietnam, einem Workshop in der Ukraine oder einem Beratungsprojekt aus Jordanien zurückkomme: Ich bin immer wieder froh, hier in Deutschland, hier in Sachsen und auch hier in Flöha leben zu dürfen. Und dankbar bin ich auch, dass mein ganzes bisheriges Leben von Veränderung und Wandel geprägt ist. Kein Vergleich zur Situation in DDR-Zeiten, wo ich mit dem Einstieg in das Berufsleben bei staatskonformer Haltung sicher auf die Rente hätte zudriften können. Eine Veränderung jedoch, die in den letzten Jahren, Monaten und Wochen immer härter und konfrontativer wurde, geht mir unter die Haut.
Als leidenschaftliche Sächsin treffen mich die psychologischen und demokratischen Gräben, die in unserem Land immer sichtbarer werden und die mit der Bewältigung der Flüchtlingssituation brachial an die Oberfläche kam. Das betrifft alle Länder in einem gewissen Maße, aber wie die Wahlen im September zeigten, bei uns im Osten, bei uns in Sachsen scheinen diese Gräben tiefer und breiter zu sein. Nicht alles lässt sich dabei aus dem Mangel an Erfahrung und als Überbleibsel des Sozialismus erklären. Eine ganze Reihe von Fehlern in der Entwicklung haben wir in der Nachwendezeit auch selbst produziert. Sachsen zum Beispiel setzte in der wirtschaftlichen Entwicklung, sehr erfolgreich übrigens, hauptsächlich auf Leuchttürme in den Zentren. In ländlichen Regionen wie der Lausitz oder dem Erzgebirge sind solche Entwicklungen nicht vergleichbar zu finden, im Gegenteil: Erst schließt die Grundschule, dann die Arztpraxis und die Sparkasse und dann kommen die Wölfe - so in manchen Orten die gefühlte Lage. Finanztechnisch stehen wir in Sachsen heute als eines der sparsamsten Bundesländer bemerkenswert da. Doch der Preis dafür ist hoch. Es fehlt an Polizisten, an Lehrern, an Pflegekräften, an Jugendzentren in der Fläche, die sich kümmern. Niemand in unserem Land, kein Mensch, kein Dorf, keine Region soll das Gefühl haben, von der Politik vergessen worden zu sein. Der Staat, unser Staat, muss mit seinen Institutionen auch in der Fläche mit einer gut ausgebildeten Polizei, motivierten Lehrern, Kindergärtnern oder Pflegekräften und einer modernen sozialen wie technischen Infrastruktur erlebbar sein. Hieran muss gearbeitet werden, Fehler der Vergangenheit lassen sich verändern.
Politiker, die sich so wie der sächsische Ministerpräsident von den Konservativen, der baden-württembergische Ministerpräsident von den Grünen oder auch der Oberbürgermeister von den Linken in unserer Stadt in diesem Sinne einsetzen für ein gutes Miteinander, verdienen Respekt, Wertschätzung und jede Unterstützung von uns allen. Protest und Ärger Luft zu machen, in dem man Politiker offen auf den Straßen oder via Sozialmedien im Internet beschimpft, den Hitlergruß grölend in Schnürstiefeln hinterhertrampelnd, Hassreden zujubelnd, sind eben keine Alternative für Deutschland, sondern dies bedroht alles, was unsere Werte ausmacht. Vielleicht sollten wir uns neu verständigen, welche Werte uns besonders wichtig sind und wie wir diese auf Basis unseres Grundgesetzes stärker als bisher mit Leben erfüllen. Vielfalt auf Basis dieser Grundwerte ist dann auch kein Risiko, sondern eine Chance für eine demokratische Gesellschaft wie unsere. Konformismus, Ideologisierung, Gleichmacherei, Angst vor andersdenkenden und anders aussehenden Menschen führt in die Irre. Auch deshalb ist die DDR untergegangen.
Für mich jedenfalls ist die deutsche Einheit bis heute keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk und auch ein ganz großes Wunder, für welches ich immer dankbar sein werde.
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(Red.) Frau Röstel ist heute als Geschäftsführerin der Stadtentwässerung Dresden GmbH tätig. Als Zeitzeuge berichtet sie über ihre Erfahrungen und Erlebnisse des politischen Umbruchs 1989/90, im Rahmen eines gemeinsamen Projektes der „Jugendstimme Flöha“ und der Oberschule Flöha/Plaue sowie des Pufendorf-Gymnasiums vor deren Schülern.